Fremde anquatschen
Da drüben sitzt ein Mann, den kenne ich. Woher bloss? Ein Schauspieler? Künstler? Oder ein ehemaliger Lehrer? Soll ich ihn ansprechen? Nein, nicht schon wieder. Das wird peinlich. Eine Fremde spricht ihn an – dann weiss er nicht, wie er reagieren soll, meint am Ende noch, ich wolle ihn anmachen, und dann haben wir den Salat. Aber wer ist er? Er bezahlt und geht. Nochmal gut gegangen.
Seit zwei Jahrzehnten quatsche ich immer wieder fremde Menschen an. Früher geschah es aus Verliebtheit, heute aus Neugier. Da waren der blonde Junge aus der Oberstufe und der dunkelhaarige Schönling, die mein Verknalltsein trotz allem nicht erwidern wollten; die Schriftstellerin in Venedig, die kreidebleich wurde, weil sie doch unerkannt durch die Stadt schlendern wollte; der Kolumnist in Zürich, den ich zu spät erkannte und ihn drum später schriftlich anquatschte. Immer wieder: ich forsch drauflos, der andere: «Hä?» Ich Neugier, der andere Abwehr. Jedes Mal eine kalte Dusche. Und ich mache weiter, als hätte ich noch immer nichts gelernt. Warum?
Und wenn Du nicht höllisch aufpasst, hast Du Deinen Einsatz schon verpasst.
Fremde Menschen anzusprechen gleiche einem Fallschirmsprung, sagt das Internet. Ich zweifle daran. Beim Fallschirm weiss man: In zehn Minuten springe ich. Beim Anquatschen begegnet Dir urplötzlich jemand, und wenn Du nicht höllisch aufpasst, hast Du Deinen Einsatz schon verpasst.
Der freie Fall allerdings – ja, vielleicht ist Fremde anzuquatschen wie Fallschirmspringen im Unwissen darüber, ob man den Fallschirm wirklich aufgeschnallt hat. Es ist wohl diese klitzekleine Restwahrscheinlichkeit, die mich es immer wieder probieren lässt. Es könnte sich ja doch ein gutes Gespräch entwickeln.
Fürs Erste habe ich eine Alternative gefunden: Ich gehe an Treffen, die explizit dazu da sind, Fremde anzuquatschen. Man tauscht Visitenkarten aus und ist einander gleich ein Stückchen weniger fremd. Freier Fall im Tandemsprung.