«Es tut sich mir eine total neue Welt auf»

Wie sieht ein Blauburgunder aus? Welche Form hat ein Chianti? Als Synästhetin sieht Nadine Reichmuth, was sie riecht und schmeckt. In der Weinhandlung ihrer Familie gibt sie Menschen einen anderen Zugang zu Wein: durch Weinbeschriebe in Bildern.
Nadine, wie muss man sich Deine Farbwahrnehmung vorstellen? Kannst Du ein Beispiel geben?
Ja, zum Beispiel verbinde ich jede Zahl mit einer Farbe. Das hat mir in der Mathematik unheimlich geholfen, denn Rechnen war für mich ein sinnliches Erlebnis. Gleichungen waren Farbklänge, allerdings ohne Logik. Zumindest habe ich sie nie gesucht.

Synästheten verbinden mehrere Sinne miteinander. So kann etwa ein bestimmter Geschmack eine Gefühlsempfindung hervorrufen. Für Nadine Reichmuth hatten Zahlen immer schon bestimmte Farben, und das hat ihr geholfen, Abstraktes konkret werden zu lassen – ein Glück im Matheunterricht. Nadine Reichmuth hat die Kunstgewerbeschule in Zürich besucht und war danach als Lehrerin für Gestaltung tätig. Seit 2010 arbeitet sie in der familieneigenen Weinhandlung, und 2020 hat sie ihre eigene Firma gegründet: Les Portraits du Vin. Nadines Bilder sind alternative Weinbeschriebe, die den Kunden helfen, den passenden Wein für ihren Anlass und ihren Geschmack zu finden.
Wie hast Du Geschmack und Farben miteinander in Verbindung gebracht?
Seit zehn Jahren arbeite ich in der Weinhandlung meines Vaters. Intern degustieren wir immer wieder Wein. Mein Vater konnte dann von Himbeeren und Ledergout sprechen. Für mich war der Wein violett. Wir haben darüber gesprochen, mein Vater fand das spannend, und dabei beliessen wir es erst einmal. Dann habe ich bemerkt, dass mir der klassische Weinbeschrieb nicht die Lust schenkt, den Wein zu kosten. So habe ich begonnen auszuprobieren. Ich rieche und sehe ganz klar eine Farbe. Dann lasse ich den Wein wirken, und es kommen noch andere Farben dazu. So habe ich gemerkt, dass sich mir eine total neue Welt auftut – wie ich esse, wie ich trinke.
Wie kam die Idee, die Synästhesie mit Eurer Weinhandlung in Verbindung zu bringen?
Als ich festgestellt habe, dass meine Wahrnehmung auch für andere einen Informationsgehalt haben kann, habe ich beschlossen: Das probiere ich aus. Ich habe Bilder gemacht, um Weine zu beschreiben, und habe Menschen ihren liebsten Wein anhand der Bilder aussuchen lassen. Das hat funktioniert.
Alkohol wird oft mit Rausch in Verbindung gebracht. Wie gehst Du damit um?
Ich finde die Verallgemeinerung nicht gut. Natürlich hat Wein etwas Berauschendes, dies darf allerdings nie im Missbrauch enden. Wein ist nämlich sehr viel mehr als Alkohol. Er kann sehr viel mehr, als betrunken zu machen. Ich möchte die Menschen dazu animieren, Wein bewusst zu geniessen.
Ich habe Bilder gemacht, um Weine zu beschreiben, und habe Menschen ihren liebsten Wein anhand der Bilder aussuchen lassen.
Was ist Wein?
Ein Geschenk der Natur an den Menschen. Es ist die Geschichte, die Sonne, der Boden, der Regen. In diesem Sinn bildet jeder Wein einen Prozess ab. Die Art, wie man mit einem Naturprodukt umgeht, fliesst auch in das Endprodukt ein. Deswegen erzählt der Wein auch etwas über Menschen: den Winzer und seinen Charakter.
Wie?
Ich habe das einmal an einer Burgunder-Degustation bemerkt. Es gab drei Weine, alle aus derselben Traubensorte, aber mit ganz unterschiedlichen Winzern. Das schmeckte man: Ein Wein war bäuerlich, ein anderer war tänzerisch, der dritte eher intellektuell.
Wie ist es mit Weinen, die in grossen Mengen hergestellt werden?
Ein Wein aus der Massenproduktion hat etwas Geschliffenes, er kommt gefällig daher. Bei solchen Weinen hat ein Mensch eine Idee, und diese Idee trinkt man dann. Um zum Pinot noir zurückzukommen: Diese Traube ist wie eine Diva, hat mir mein Vater einmal gesagt. Man kann sie mit nichts mischen, denn sie ist viel zu eigensinnig. Solche Weine sind ganz andere Charaktere als zum Beispiel ein Wein aus Merlot, einer Traubensorte, die viel einfacher zu handhaben und in ihrer Art verbindend ist. Sie wird ja auch oft als «Vermittlerin» in Assemblagen eingesetzt, zum Beispiel mit dem Cabernet. Das Schöne daran ist: Egal, welchen Wein man trinkt, jeder hat seinen Ausdruck, den man in seiner Ganzheit spüren kann, wenn man sich auf ihn einlässt.

Während Du erzählt hast, bist Du gerade richtig aufgeblüht. Macht Dich dieses Thema glücklich?
Sehr. Ich liebe die Natur, und mit dem Wein habe ich eine Pflanze gefunden, bei der ich mich daheim fühle. Ich sehe mich als Botschafterin.
Was ist Deine Botschaft?
Passt auf. Seid achtsam. Geniesst und staunt.
Trinken wir Wein unachtsam?
Ja, aber nicht nur den Wein. Wir nehmen vieles quasi nebenbei zu uns. Das ist schade. Die Weinwelt ist heute sehr vielfältig, aber dadurch ist sie auch unüberschaubar geworden. Viele sind damit überfordert und suchen Hilfe. Einige Koryphäen sagen uns dann, was gut ist und wie welcher Wein schmeckt. Leider beobachte ich , dass sich als Folge viele Menschen weder auf ihren eigenen Geschmack noch auf ihr eigenes Urteil verlassen. Ich möchte den Menschen dazu bringen, sich wieder auf das Erlebnis Wein einzulassen. Jede und jeder für sich persönlich. Wein ist nämlich ein Zaubertrank. Und er steckt voller Geschichten!
An welche Geschichten denkst Du?
Ich muss vorausschicken: Ich liebe Geschichten. Wenn sie gut erzählt sind. Einerseits ist da die Geschichte, die jeder Wein selbst schreibt: Das Wachstum der Traube, ihre Ernte, ihr Tod und die Geburt des Weingeistes. Diese Geschichte nimmt man trinkend auf und auch sie kann gut oder schlecht erzählt sein. Andererseits finde ich auch in der Mythologie ganz viele Geschichten zum Wein. Da war der Weingott Dionysos, der Ariadne aus dem grössten Leid gerettet hat.
Auch an vielen anderen Orten trifft man auf die Fähigkeit des Weines, als Sorgenbrecher aufzutreten.
Weiter gilt er auch als Traumbringer, er schafft Raum für Inspiration, er kann beleben oder beruhigen, verbinden und – wie es das Sprichwort sagt – die Wahrheit spürbar machen. In vino veritas! Spannend fand ich auch eine Überlieferung der Perser: Wenn sie einen Entscheid fällen mussten, haben sie ihn zweimal gefällt – einmal nüchtern und einmal mit Wein – und wenn der Entscheid beide Male gleich war, haben sie ihn umgesetzt. Ein Wein kann weit mehr sein als ein Konsumgut. Er kann Dich für einen Abend in eine andere Stimmung bringen. Wein hat etwas mit Lust und Lebensfreude und Kreativität zu tun. Manchmal steckt man so fest. Der richtige Wein kann einen unterstützen bei dem, was man machen möchte. Einige der Wirkungen habe ich ja oben beschrieben. Und es gibt noch viele mehr und ausserdem Facetten darin.

Wie meinst Du das?
Es geht nicht um Trunkenheit und Benebeltsein. Es geht darum, den Wein wirken zu lassen, mit seinem ganz spezifischen Charakter: Nicht als Medikament, sondern wie schon gesagt als Zaubertrank. Der eine Wein geht in die Tiefe, ein anderer verbindet, ein dritter wirkt in die Weite. Deswegen sollte man darauf achten, mit wem man ihn trinkt.
Machst Du Kunden darauf aufmerksam?
Ja. Wenn ein Wein Tiefe provoziert, muss man dafür bereit sein. Es sollte schon eine gewisse Vertrautheit vorhanden sein. Ein anderer Wein wiederum versprüht Heiterkeit. Da muss man gut aufpassen, denn eine solche Flasche ist immer schnell leer. So ein Wein macht quasi ein Feuerwerk. Er rüttelt an schweren Gedanken und lässt sie als schöne Farbsprüher davonziehen.
Kann Wein glücklich machen?
Er holt nur das heraus, was sowieso in einem steckt. Vielleicht hat man eine Barriere, und die lässt der Wein dann für die Dauer seines «Besuchs» verschwinden. Wein kann helfen, etwas in sich wiederzufinden, sich zu erinnern. Er lässt nicht etwas Neues in einem entstehen. Wenn ein Produkt eine Stimmung erzeugt, in der man sich zuvor nicht schon befand, dann sind das eher Drogen. Wein ist sanfter. Er bewegt nur, was bewegt sein will.
Wein lässt nicht etwas Neues in einem entstehen.
Auch wenn nicht alle Weine sanft sind.
Die meisten Weine sind eine Einladung. Es ist, als würde er Dir die Hand reichen und sagen: «Komm mit!» Wir haben einen Italiener aus Apulien. Wenn ich am Abend ein Glas davon trinke, ist das wie ein charmanter Italiener, der mich zum Tanz auffordert. Natürlich kann man diese Einladung auch missachten.
Wie?
Indem man zu viel trinkt. Das tut weder dem Trinkenden noch dem Wein gut.
Zum Abschluss noch diese Frage: Erzählst Du uns von einem Glücksmoment, den Du heute erlebt hast?
Als ich jetzt einfach erzählen konnte über den Wein, habe ich mich sehr glücklich gefühlt. Und Velofahren ist für mich Glück, die Freiheit. Was ich auch sehr schön finde, ist am Morgen meine Kinder zu wecken. Und meine Katze ist für mich eine Glücksbringerin, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie macht mich einfach glücklich. Das Wort Glücksbringer verstehe ich erst, seit ich meine Katze habe.