Ganz oben: Konzentration
Während ich am Küchentisch sitze, steht ein paar Meter neben mir ein Mann im Baum. Ich wohne im vierten Stock, der Mann ist also entsprechend weit oben. Der Einfachheit halber nenne ich ihn Silas.
Silas steht in der Baumkrone, seine Füsse auf dem obersten dicken Ast. Genau dort wo sich sonst die Elstern treffen und laut herumzackern, während wir essen. Er schneidet die Äste zurück. Ich setze die Brille auf, um Silas besser sehen zu können. Ja, er ist mit einem Seil gesichert. Jetzt bemerke ich auch, dass er gar nicht so hässlich ist.
Aber ich bin vom Thema abgekommen. Was mir heute Morgen wichtig war: meditieren, solange alle noch schlafen. Diese Minuten in Stille, bevor der Rest der Familie erwacht, bevor der Rummel beginnt, bevor jemand mit Vehemenz einen Wunsch äussern kann, weil er bemerkt, dass ihm etwas fehlt. Ein Nuggi, ein Kuscheltier, eine Stunde Schlaf. Ich sass einfach da und hörte nur mich, wobei das schon laut genug war.
Mir war es wichtig, erst mich selbst zu sammeln, um dann für die anderen bereit zu sein. Wenn ich bei mir bin, kann ich auch mit der Welt umgehen, ohne in Schieflage zu geraten.
Während dieses Gleichgewicht für mich einfach nur ein Wunsch war, wie wichtig ist es erst für Silas. Die akrobatische Übung in der Baumkrone erfordert seine volle Aufmerksamkeit. Wenn ich mich beim Arbeiten ablenken lasse, wird mein Text weniger schnell fertig oder liest sich schlecht. Wenn Silas nicht bei der Sache ist, stürzt er in die Tiefe. Natürlich hat er den Karabinerhaken und das Seil. Trotzdem.
Um nicht sich selbst und seine Kollegen unten auf dem Boden zu gefährden, muss Silas sich konzentrieren. Ausgerechnet diese Fähigkeit kommt uns gerade abhanden. Es kostet uns immer mehr Mühe, uns nicht ablenken zu lassen. X-mal am Tag checken wir unser Mobiltelefon und unterbrechen damit eine Tätigkeit oder einen Gedanken. Und wenn eine Website länger als vier Sekunden lädt, klicken wir weg. Wir verlieren die Geduld.
Lange Texte zu lesen, ist heute nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Da muss man stillsitzen. Sich konzentrieren. Man hat erst etwas vom Text, wenn man sich Zeit nimmt und Wort für Wort liest. So schreiben Journalisten und Texter heute für den scannenden Leser. Online-Medien wie Printprodukte tragen den neuen Gewohnheiten Rechnung. Erfahren wir als Schnellleser noch, was wichtig ist?
Sie haben bis hierher gelesen. Wow.
Wie schaffen Sie das mit der Konzentration?
Ich versuche es mit Inseln. Dann schotte ich mich von der Aussenwelt ab, Mailprogramm aus, Handy auf Flugmodus. Ich bekomme den Tunnelblick und nehme nur noch meinen Text wahr. Oder auf dem Meditationskissen meine Atmung. Wenn ich dann nicht widerstehen kann und doch rasch auf mein Handy schiele, bin ich froh, dass ich nicht Silas bin. Der ist übrigens gerade auf dem Boden angekommen. Wirft einen Blick auf sein Handy und räumt dann die abgesägten Äste auf.
