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Mein Kraftort

«Deep Work» heisst das Zauberstück, das ich beherrschen möchte. Die Idee besteht darin, für eine definierte Zeit all das zu meiden, was uns vom Wesentlichen ablenkt – mit dem Ziel, uns maximal zu konzentrieren und darum ausgezeichnet zu arbeiten. Am besten gelinge das, wenn man sich abschotte. Cal Newport, der ein ganzes Buch über das Thema geschrieben hat, führt grossartige Entwicklungen in der Wissenschaft auf diese Methode zurück und nennt als Beispiele Carl Gustav Jung oder Nobelpreisträger John Bardeen.

Ich befinde mich nicht im Wettstreit mit Sigmund Freud und verfolge auch nicht das Ziel, Nobelpreisträgerin zu werden (auch wenn es schön wäre, wenn das Wort in seiner weiblichen Form häufiger verwendet würde) – aber natürlich beschäftigt auch mich das Thema. Carl Gustav Jung hatte für intensive Wissensarbeit einen Turm in Bollingen, John Bardeen nutzte ein spezielles Laborgebäude in Murray Hill. Mein persönliches Arbeitszimmer mit Blick auf wahlweise Meer / Berge / Wald / See existiert bisher nur in meinem Kopf, aber ich habe jetzt so etwas wie einen Cousin des Bollinger Turms entdeckt: den Behandlungsstuhl meines Zahnarztes.

Kaum nehme ich dort Platz, wird alles gut. Der Zahnarzt beginnt mit seiner Arbeit, ich schliesse die Augen, und die Reise beginnt. Nie fliessen meine Gedanken besser als bei den Zahnbehandlungen. Hier verbessere ich Arbeitsabläufe, hinterfrage meine Strategie, entwerfe neue Texte oder entspanne einfach nur. Einmal war ich kurz davor einzuschlafen. Bin ich verrückt?

Nein, nur für eine kurze Zeit mundtot. Ich kann nicht telefonieren, keinen Streit um Spielsachen schlichten, keine Mails beantworten, keine Windeln wechseln, keine Informationen aus dem Internet herauskitzeln. Stattdessen bin ich ganz allein mit meinen Gedanken. Um mich herum surrt und gurgelt es, und die Geräuschkulisse lässt mich das Flow-Gefühl nur noch intensiver erleben. Die Gedanken sprudeln, mein Kopf vibriert, plötzlich Stille. «Frau Rüdt? Sie dürfen jetzt nochmals spülen. Wir sind fertig. Das war die vorerst letzte Behandlung.»

Noch in der Garderobe fische ich mein Notizbuch aus der Tasche und halte Behandlungsstuhlgedankengut fest. Die vorerst letzte Behandlung? Jetzt ist es an der Zeit, einen Turm zu bauen.

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